„Die Gravitationskraft ist die am wenigsten verstandene fundamentale Kraft“
Giacomo Bruno, Professor an der UCLouvain und Experimentalphysiker, ist ein wichtiger Akteur in der Gravitationswellenforschung. Seine Gruppe arbeitet am Virgo-Detektor in Italien und am künftigen Einstein Teleskop (ET) mit. Bis 2018 forschte er am CERN, insbesondere am CMS-Experiment am großen Teilchenbeschleuniger LHC. In diesem Interview geht er auf die Verbindungen zwischen dem CERN und dem ET ein.
Die Grenzen des menschlichen Wissens verschieben
Die Physiker:innen wissen, dass unser Universum von vier fundamentalen Kräften gesteuert wird, von denen die Gravitationskraft die am wenigsten bekannte ist. Giacomo Bruno sieht das Einstein-Teleskop-Projekt als eine Möglichkeit, den Schleier über diesem Geheimnis zu lüften, so wie es dem CERN bei den anderen drei fundamentalen Kräften gelungen ist.
„Es gibt starke Parallelen zwischen der Forschung am CERN und der geplanten Forschung für das ET. Das CERN erforscht die drei fundamentalen Kräfte (den Elektromagnetismus sowie die starke und die schwache Wechselwirkung) mithilfe von Teilchenbeschleunigern, während sich das ET auf die Gravitation konzentriert. Die fundamentalen Kräfte bestimmen die Dynamik des Universums, daher wirkt sich jede Entdeckung in einem dieser Labore auf die anderen aus“, erklärt der Professor.
„Wie am CERN sind auch die Instrumente des ET komplex und erfordern jahrzehntelange Entwicklung und Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler:innen“, fügt er hinzu. „Etwa 2.000 bis 3.000 Forschende sind am ET beteiligt, verglichen mit 15.000 am CERN. Beide Projekte zielen darauf ab, die Grenzen des menschlichen Wissens zu erweitern. Die Gravitation ist die am wenigsten verstandene Kraft und das Universum ist weitgehend unerforscht. Gravitationswellen bieten eine neue Möglichkeit, das Universum zu beobachten und dem Urknall näher zu kommen.
Außerdem ist die Arbeit rund um das Einstein Teleskop und das CERN nicht auf die wissenschaftliche Gemeinschaft beschränkt. Beide Instrumente bieten ein immenses Potenzial in Bezug auf Technologien und Auswirkungen in Spitzenforschungsbereichen.“
Technologischer Fortschritt
Das Einstein Teleskop hat ein enormes Potenzial für wissenschaftliche, wirtschaftliche und technologische Spin-offs. „Langfristig gesehen liegt fast allen technologischen Fortschritten die Grundlagenforschung zugrunde. Kurz- und mittelfristig fördern solche Projekte die technologische Innovation“, erklärt Bruno. „Das CERN hat entscheidende Technologien wie das Internet und die Nuklearmedizin hervorgebracht. Ebenso könnte das ET ein Katalysator für die Entwicklung fortschrittlicher Systeme für Vakuum, Schwingungsisolierung, ultrastabile Laser und präzise Beschichtungen sein.“
Diese Innovationen zielen zwar auf die Erforschung des Weltalls ab, könnten aber kurzfristig auch in Bereichen wie der Telekommunikation und der Feinmechanik eingesetzt werden. „Dies geschieht in Zusammenarbeit mit der Hightech-Industrie, um deren Fähigkeiten und die Leistungsfähigkeit ihrer Produkte zu verbessern“, so Bruno. „Diese Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und industriellen Anwendungen ist für den Fortschritt unerlässlich.“
Ein Wissenszentrum für künftige Generationen
Wie das CERN sieht Giacomo Bruno auch das Einstein Teleskop als einen künftigen Anziehungspunkt für Forschende: „Das CERN inspiriert mit seiner Kultur der Exzellenz, und das ET – auch wenn es bescheidener ist – wird ebenfalls Wissenschaftler:innen anziehen und neue Generationen ansprechen.“
Das CERN, das jährlich über 100.000 Menschen besuchen, darunter viele Schulen, ist ein Vorbild für die Popularisierung der Wissenschaft. Bruno hofft, dass das ET eine ähnliche Wirkung haben wird: „Die Region wird vom öffentlichen Engagement und der Ausbildung junger Wissenschaftler:innen profitieren.“
Die Rolle der Wissenschaft für die Gesellschaft
Schließlich unterstreicht Giacomo Bruno die Bedeutung der Grundlagenforschung für die Gesellschaft. „Sie ist entscheidend für die Schaffung, Erhaltung und Verbesserung von Wissen. Für junge Menschen ist die Grundlagenforschung ein faszinierendes Abenteuer, bei dem sie das Unbekannte erforschen können“, sagt er. „Dieses Engagement ist unerlässlich, vor allem in einer Welt, in der die Realität oft durch unzuverlässige Kanäle in Frage gestellt wird. Ich glaube, dass das Einstein Teleskop eine Schlüsselrolle bei der Wahrung und Weiterentwicklung des menschlichen Wissens spielen wird.“